Astrid Ackermann | ︎ Fotografie |

Astrid Ackermann - horizontal series - Miltenberg



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Miltenberg


Ob ich die Nadel in den festen Pappkarton eindrücke, wie früher bei der Deutschlandreise oder
ein liegengelassener Bindfaden sich auf dem Tisch windet und einen Flussverlauf nachstellt, ob
Fontane plötzlich zum Reisebegleiter wird, stets zersplittert die glatte Oberfläche meines iPhones
-, so als falle es auf die Erde, und aus meiner eindimensionalen NavigationsApp erbrechen sich
pockenartige Gemälde mit nässendem Ausfluss. Eine plastische Relief-Kartographie, - durch
Eindrücke um mich herum angefüllt mit dem menschlichen Auge meist unsichtbaren Details, im
Alltag jeder Bedeutungshaftigkeit entbehrend, beginnt zu flimmern. Das Treiben um Rathaus,
Kirche, Krankenhaus (soweit vorhanden), Industriegebiet und Umgehungsstraße (beides immer
ein Thema), die wohlbehüteten Vorgärten, zwischen Auto Carport und betonierten Gartenwegen,
alles wird plötzlich transluszent. Steine erlernen das Sprechen,- oder wir das Hören und
Verstehen. Ein Forsitienstrauch unterhält sich mit der Alufelge, ein Wohnzimmervorhang
harmoniert mit dem Dompfaff im Baum daneben. Entstehungsgeschichten sowie
architektonische Skizzen von Lebensentwürfen tauchen auf und verschwinden, lösen sich ab
und, - auf in der Landschaft. Ich lese in den Gesichtern. Der zugeschnittene Baum zeichnet die
Statur des daneben werkelnden Mannes nach, der Chow-Chow wird spazieren geführt, wer ist
hier Hund und wer Besitzer, die Gesichtsform der Bäckerin gleicht der ihrer Mohnschnecke, Hier
der Geruch nach Sauerkraut und Kassler und von dort daneben, ziehen feine Aromaschwaden
von Räucherstäbchen und Yoga durch die Straßen.
Eine Künstlerin malt, eine Hausfrau bietet privat Massagen an, ein biologischer Bau mit
Naturgarten, davor ein Jeep, ein Instrumentenbauer, eine Feinmechanikerwerksatt, ein Baumarkt,
ein Design-Inneneinrichtungsgeschäft, eine Imbissbude, ein Sonnenstudio. Und dazwischen:
leere Schaufenster, ganz Vieles zu vermieten, Gräber und Baustellen.
Und dann links neben dem Bordstein, die Farbe der Erde, vom Wind zusammengeführte
Laubhaufen, an der Straßenecke steht ein Mann mit einem Lama, Eisenoxide von Ocker bis
Zinnober, und darüber coelinblauer Himmel. Die Wolke ist ein Schaaf, - und dort ein Elefant. Eine
Mutter mit Kind streckt Ihren Arm nach oben. Auch mein Blick folgt von ihrer Achsel über ihren
Arm, ihren Zeigefinger durch die durchsichtige Weite in die Unendlichkeit. Eine neue Böe
durchstreift raschelnd das Blattwerk, ich folge den wirbelnden Blättern und bin gespannt.

Alex Novak, Vorwort zum Katalog ‘Biotope. BIOS Leben TOPOS Ort - ein Projekt von Astrid Ackermann, Fotografie und Sylvia Ackermann, Konzept. Galerie am Tor, Miltenberg’, 2021